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Land der Könige

Kurzgeschichte
Bild von mohamed_hassan auf Pixabay

© Michael Metzger, 2023.

Auf dem Nachhauseweg dachte Dr. Meyer intensiv über das nach, was ihm der alte Wirt in der Berghütte gesagt hatte. Immer wieder liefen Teile des Gesprächs vor seinem inneren Auge ab, während er den Wagen durch die Dunkelheit steuerte. Sein Sohn, der bei dem Gespräch dabei gewesen war, schlief auf dem Rücksitz. „Auch ich steuere hier meine eigene Kutsche wie ein König. Schon seltsam…“ dachte Meyer bei sich. Dabei nahm er Bezug auf die Worte des Alten. Denn dieser hatte in etwa Folgendes zu ihm und dem Jungen gesagt:

„Heutzutage leben wir in einem Land voller Könige. Früher hatten nur Kaiser, Könige oder Fürsten materiellen Reichtum und Luxus. Nur Hochgestellte konnten in eigenen Kutschen durch die Gegend reisen. Heute hingegen gibt es in den wohlhabenden Staaten viele Menschen, die sich fast wie Könige fühlen können. In ihren komfortablen Automobilen, sozusagen ihren Privatkutschen, fahren sie auf gut ausgebauten Straßen in recht kurzer Zeit zwischen weit entfernten Orten hin und her, fast jederzeit, wenn sie es wünschen. Dabei haben sie das ganze Auto für sich, sitzen in bequemen Sitzen und hören ihre Lieblingsmusik, als säßen sie in einem Konzert, das nur für sie gegeben wird. Königlich, fürstlich!

Sie gehen in Wohnungen oder Häuser, in denen moderne Möbel stehen, die sie sich liefern und aufbauen lassen können. In den meisten Familien hat ein jeder sein eigenes Zimmer für sich. Manche Zimmer sind so groß wie die Wohnungen, in denen unter anderen Umständen ganze Familien mit einer Hand voll oder mehr Kindern lebten. Am Abend setzen sie sich auf eine gemütliche, breite Couch, lassen sich von einem Boten ein fertig zubereitetes Essen liefern und schauen einen Film ihrer Wahl auf einem großen Bildschirm, als wären sie bei einer Theateraufführung nur zu ihren Ehren.

Viele von ihnen fliegen jedes Jahr in fremde Länder. Dort verbringen sie Zeit in paradiesischer Umgebung – in luxuriösen Hotels, die modernen Palästen gleichen, an weißen Stränden oder in gut gepflegten Poolanlagen. Sie werden dort rundherum versorgt und genießen vielfältige Speisen und Getränke. Dort gibt es so viel zu essen, dass, auch wenn sie sich den Bauch vollschlagen, immer noch Speisen weggeworfen werden, da einfach zu viel da ist. Was den materiellen Komfort angeht, behandelt man sie dort königlich. Zum Teil wird ihnen jeder Wunsch von den Lippen abgelesen. Es gibt dort sogar Menschen, die nur für ihre Unterhaltung zuständig sind. Früher hatte nur ein König Hofnarren zu seiner Belustigung!

Wenn sie krank sind, haben sie die Wahl zwischen verschiedenen Ärzten und Spezialisten. Wenn Ihnen ein Unfall zustößt, kommen sie in ein Krankenhaus, wo sich gleich mehrere Menschen intensiv um sie kümmern und sie rundum versorgt werden. Die meisten von ihnen müssen nicht mehr körperlich hart arbeiten. Sie werden nicht krank von harter körperlicher Arbeit, sondern weil sie zu viel sitzen, zu viel essen und zu viel trinken. Wie manche dekadenten Könige und Herrscher der Vergangenheit verfetten und verweichlichen sie!

Diese Menschen genießen sogar mehr Reichtümer und Annehmlichkeiten als früher die Fürsten und Könige. Gerade dieser materielle Wohlstand lässt sich viele von ihnen scheinbar wie kleine Könige fühlen. Doch sie benehmen sich nicht wie gütige und gerechte Herrscher, die versuchen, die Umstände ihres Volkes zu verbessern. Nein, sie benehmen sich wie kleine, maßlose Tyrannen, die nur an sich selbst interessiert sind. Obwohl sie schon alles haben, bekommen sie nicht genug. Und wenn ein anderer „König“ mehr hat, dann bricht sofort der Neid aus. Die „Könige“ machen sich nur allzu gerne gegenseitig das Leben schwer. Jeder will den anderen ausstechen, übertrumpfen, mehr haben und mehr darstellen als dieser. Gönnen tun die sich nichts!“

Dr. Meyers siebenjähriger Sohn Lukas, der gebannt zugehört hatte, warf eine Frage ein, deren offenherzige Naivität seinem jungen Alter geschuldet war. Gleichzeitig war sie aber erstaunlich scharfsinnig, wie Meyer fand. „Warum freuen sich die Könige denn nicht über alles, was sie haben, und teilen es miteinander? Warum sind sie nicht dankbar und zufrieden und denken auch an alle, die weniger haben?“ Der alte Wirt lächelte verlegen und zuckte nur mit den Schultern: „Gute Frage, Junge. Ich kann sie dir leider nicht beantworten. Das weiß nur der liebe Gott!“


Während Meyer den Wagen steuerte, dachte er über die Frage seines Sohnes nach. Er hätte sie ihm beantworten können. Denn er hatte verschiedene, teils recht komplexe Erklärungsansätze. Doch er wollte seinen Sohn nicht mit trockenen, psychologischen Thesen langweilen. Zumal ihm diese zwar logisch erschienen, sie ihn jedoch nicht gänzlich überzeugen wollten.

Nur zu gut erinnerte sich Meyer an die Zustände, die er in Indien und Afrika gesehen hatte. Dort lebten ganze Familien in mehr schlecht als recht zusammengezimmerten Holzhütten, die so groß waren wie Lukas‘ Kinderzimmer. Strom oder fließendes Wasser hatten sie vermutlich nicht. Und die Chance, dass es in den Wäldern unweit ihrer Behausung von gefährlichen Tieren wimmelte, war nicht zu unterschätzen. Dennoch hatte er dort in glückliche, gesunde Kindergesichter gesehen. Auch die meisten Erwachsenen hatten auf ihn erstaunlich zufrieden gewirkt. Nicht weit entfernt von solchen Baracken hatte Meyer große Villen oder weitläufigen Anwesen gesehen, in denen rauschende Feste voller Überfluss gefeiert wurden. Doch das schien bei den Armen erstaunlicherweise nicht zu übermäßiger Missgunst oder Unzufriedenheit zu führen.

Meyer war klar, dass es dort viel zu viel Elend und Not gab, als dass solche Zustände ein Vorbild für den Rest der Welt sein konnten. Auch waren ihm plakative und klischeebeladene Darstellungen von armen, aber ach so glücklichen Menschen schon immer suspekt gewesen. Nicht zuletzt, da er dort gesehen hatte, wie Menschen ihr großes Geschäft am helllichten Tag auf Bahngleisen vor vorüberfahrenden Zügen verrichteten oder wie mitten in der Großstadt Leprakranke bettelnd umherzogen. Zudem gab es in den reichen Ländern viele Menschen, die dankbar waren für das, was sie hatten, damit glücklich waren und ein ausgeglichenes, bescheidenes Leben führten und von denen sich manche sogar ehrlich und leidenschaftlich für weniger Privilegierte einsetzten. Die Welt war selbstverständlich nicht schwarz-weiß.

Dennoch fragte er sich, was das für „Könige“ waren, die in ein armes Land wie Thailand reisten, um sich dort für kleines Geld Sex mit minderjährigen Prostituierten zu kaufen, damit sie sich nicht nur reich, sondern auch begehrt wie ein König fühlen konnten. Mit jungen Prostituierten, die sich verkauften oder verkauft wurden, um an Geld für sich und ihre Familien zu kommen. Das gleiche galt auch für die „Königinnen“, die meinten an afrikanischen Stränden ihren jungen Traumprinzen finden zu können und sich oft genug wunderten, warum die Liebe so schnell erkaltete, wenn die Prinzen in das Land der Königin kamen.

Er dachte an die modernen „Könige“, die sich leidenschaftlich gerne als moralisch hochstehende Weltretter aufspielten, während sie aus Statusgründen schamlos einem Konsum frönten, der in seinem Ausmaß nur durch die Ausbeutung moderner Sklaven in fernen Ländern möglich war. Diese Ursachen ihres Wohlstandes schienen diesen dekadenten Heuchlern jedoch völlig gleich zu sein. Sie waren womöglich so vermessen, diesen im Wesentlichen ihren überlegenen Fähigkeiten und ihrer eigenen Anstrengung zuzuschreiben. Hauptsache, man konnte sich in der Gesellschaft vor seinesgleichen hervortun, mit seinem verwöhnten Hinterteil auf seinen Pfründen hocken bleiben und insgeheim die Nase rümpfen über unterprivilegierte Versager, die es eben zu nichts gebracht hatten.

Dass es selbst im eigenen Land bereits genügend ausgebeutete Arbeitskräfte gab, kam Meyer unwillkürlich in den Sinn, als er an Paketzusteller und andere Dienstleister im Niedriglohnsektor denken musste.  Meyer fragte sich auch, warum sich diese „Weltverbesserer“ nie für Reinigungskräfte oder flaschensammelnde Rentner in der eigenen Umgebung einzusetzen schienen. Nun gut, das waren in deren Augen wohl die unterprivilegierten Versager, die besser etwas Anständiges gelernt oder sich mehr angestrengt hätten…

Meyer hielt sich nicht für einen Moralapostel und wollte beileibe auch keiner sein. Der Vergleich des alten Wirtes hatte ihn lediglich wieder an eine Realität erinnert, über die er sich im Alltag kaum Gedanken machte. Aus dieser Perspektive hatte er sein Leben noch nie betrachtet. Auch er genoss all die Annehmlichkeiten des modernen Lebens und nahm die meisten von ihnen als gegeben hin, meist ohne dafür besonders dankbar zu sein. Gleichzeitig sagte ihm die Vernunft, dass er der Welt keinen Dienst erwiese, wenn er sich aus falsch verstandener Solidarität mit den Benachteiligten aller Länder aus dem Leben seiner Gesellschaft zurückzöge. Zudem wäre wohl niemanden gedient, am wenigsten seinem Sohn, wenn er ob der Missstände in der Welt in Verzweiflung und womöglich Resignation versänke.

Dr. Meyer war zwar ein Spezialist auf seinem juristischen Fachgebiet, dem Patentrecht, doch mit den großen Menschheitsfragen hatte er sich nie im Detail beschäftigt. Er lebte schon lange genug, um eine gesunde Skepsis gegenüber gesellschaftspolitischen Utopien zu hegen. Ihm schien aber schon viel gewonnen, wenn die Menschen begännen, sich zu fragen, woher ihr materieller Wohlstand im Detail stammte und wer womöglich in letzter Konsequenz einen oftmals nicht gerade geringen Preis dafür zu zahlen hatte.

Gleichermaßen schien es ihm ein guter Anfang zu sein, sich über die Auswirkungen der eigenen Lebensweise auf die Welt in- und außerhalb des direkten Umfelds Gedanken zu machen. Ihm schien es dabei zu kurz gesprungen, nur auf staatliche Reglementierungen zu hoffen, die zwar für die Masse von Menschen bindend sein konnten, diese aber von der vollen Last ihrer individuellen Verantwortung befreiten. Nicht zuletzt waren solche großflächigen Regelungen anfällig für die „Betriebsblindheit“ und Inkompetenz von sogenannten Experten, die perversen Machtgelüste von Entscheidungsträgern und die Einflussnahme von Interessengruppen, die beabsichtigten, die Regeln ganz zu ihrem Vorteil zu gestalten.

Dr. Meyer beendete seine düsteren Grübeleien. Nochmals erinnerte er sich an den Wirt und an dessen Worte. Ganz bewusst versetzte er sich in das Gefühl, ein in materieller Hinsicht königliches Leben zu führen. Ja, er hatte in der Hinsicht wirklich nicht viele Gründe, sich zu beklagen. Dann dachte er an seinen Jungen, der immer noch friedlich auf dem Rücksitz schlief: Welche Welt wollte er seinem Sohn hinterlassen? Wollte er ein König sein, dessen Reich an seiner eigenen Dekadenz zugrunde ging, so dass sein Sohn ein im Niedergang begriffenes Königreich erben würde? Oder wollte er einer der Könige sein, die ihren Kindern ein blühendes Königreich hinterlassen konnten? Und: Sollte aus seinem Sohn ein kleiner, egozentrischer Tyrann werden, von deren Sorte es bei genauem Hinsehen schon so viele gab, oder ein demütiger, gerechter und weiser „König“?


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