Ein Blick auf eine alte jüdische Legende.
Kann der Golem lieben? … So gebe ich denn auf und sage nur zum Golem und seinem Schöpfer: Entwickelt euch friedlich und zerstört die Welt nicht. Schalom.
– Gershom Scholem
zitiert im Jüdischen Museum im Raschi-Haus, Worms
Die jüdische Legende vom sogenannten Golem lässt sich, in schriftlicher Form, bis ins Mittelalter in die deutsche Stadt Worms im heutigen Bundesland Rheinland-Pfalz zurückverfolgen. Der Gelehrte Eleazar von Worms (ca. 1165-1230 bzw. 1176-1238, je nach Quelle) beschrieb damals in einem Kommentar zum „Buch der Schöpfung“ (Sefer Jezira), wie ein dazu Befähigter aus Erde eine menschenähnliche Gestalt schaffen und dieser mit Hilfe hebräischer Buchstaben Leben einhauchen könne (vgl.: https://schumstaedte.de/media/eleazar_von_worms.pdf).
Ein auf diese Weise magisch zum Leben erweckter Golem tritt in verschiedenen Legenden sowohl als Diener als auch als Beschützer der Menschen in Erscheinung. Er wird jedoch nicht als einem Menschen gleichwertig betrachtet, da ihm die Seele und die Sprache fehle.
Später entstand beispielsweise die Legende, dass der im 16. Jahrhundert in Prag lebende, einflussreiche Rabbi Jehuda Löw einen Golem erschaffen habe, damit dieser für ihn Hilfsdienste ausführe. In einer Version der Legende gerät der Golem außer Kontrolle und verwüstet das Prager Ghetto. Rabbi Löw kann seine Kreatur schließlich stoppen, indem er eine hebräische Buchstabenkombination entfernt, mit der er den Golem versehen hatte. Daraufhin verlässt den Golem das Leben und er zerfällt.
Aleph, Mem und Tav = Emet = Wahrheit
Diese Buchstaben werden auf die Stirn des Golems oder auf ein Pergament geschrieben und dem Golem unter die Zunge gelegt. Sobald Golem wieder Lehm werden soll, wird das Papier entfernt oder die Schrift auf der Stirn verändert.
Lösche das Aleph aus – es bleiben: Mem und Tav = Tod. Buchstaben als An- und Ausschaltfunktion für den Golem?
von einer Tafel im Jüdischen Museum im Raschi-Haus (Worms)
Der in Wien geborene und mehrere Jahre in Prag wohnhafte Schriftsteller Gustav Meyrink (mit richtigem Namen Gustav Meyer) griff die Legende vom Prager Golem in seinem 1915 in Buchform veröffentlichten Roman „Der Golem“ in abgewandelter Form auf. In Meyrink’s Roman, der zur phantastischen Literatur gezählt wird und im Prager Ghetto spielt, kehrt der Golem alle 33 Jahre wieder, um in Prag sein Unwesen zu treiben. Meyrink benutzte die Thematik des Golem als Aufhänger für die Handlung seines Romans, der sich mit der inneren Entwicklung des Protagonisten befasst und dabei eine Vielzahl esoterischer und okkulter Motive aufgreift.
Dann wacht in mir heimlich die Sage von dem gespenstischen Golem, jenem künstlichen Menschen, wieder auf, den einst hier im Getto ein kabbalakundiger Rabbiner aus dem Elemente formte und ihn zu einem gedankenlosen automatischen Dasein berief, indem er ihm ein magisches Zahlenwort hinter die Zähne schob.
Und wie jener Golem zu einem Lehmbild in derselben Sekunde erstarrte, in der die geheime Silbe des Lebens aus seinem Munde genommen ward, so müßten auch, dünkt mich, alle diese Menschen entseelt in einem Augenblick zusammenfallen, löschte man irgendeinen winzigen Begriff, ein nebensächliches Streben, vielleicht eine zwecklose Gewohnheit bei dem einen, bei einem andern gar nur ein dumpfes Warten auf etwas gänzlich Unbestimmtes, Haltloses – in ihrem Hirn aus.
– Gustav Meyrink, „Der Golem“
https://www.projekt-gutenberg.org/meyrink/golem/chap004.html
Den modernen Menschen mag die Legende des Golem sofort an die Geschichte von „Frankenstein“ erinnern, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Romanform erschien und später vielfach verfilmt wurde. Auch Goethe’s „Der Zauberlehrling“ enthält deutliche Anklänge an die Golem-Legende. (Es gibt in der Tat Vermutungen, dass Goethe sich von der Legende des Prager Golem inspirieren ließ). In beiden Schriften kommt die Problematik zum Ausdruck, dass der von Hybris geleitete Mensch die Kontrolle über seine eigene Schöpfung verliert.
Die Golem-Legenden und die genannten Beispiele aus der Literatur sind in der modernen Zeit des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts in ihrem Kern aktueller denn je. In den vergangenen 200 Jahren haben sich neben dem enormen Nutzen neuer Errungenschaften auch deren Schattenseiten auf vielfältige und teils erschreckende Weise offenbart. In der heutigen Zeit, in der sich Forschung und Technik intensiv mit Künstlicher Intelligenz und Robotik sowie mit Möglichkeiten befassen, gezielt in das Erbgut von Menschen, Tieren und Pflanzen einzugreifen, erscheint ihr Inhalt bei näherer Betrachtung äußerst relevant. Wer die zeitlose Dimension darin erfasst, kann sie heute auch als deutliche Mahnung auffassen.
Es bleibt zu wünschen, dass die modernen Zauberlehrlinge, die beispielsweise im Bereich der Künstlichen Intelligenz, der Robotik und der Genetik gewonnene Forschungsergebnisse in neuartige, reale Anwendungen umsetzen möchten, keinen modernen „Golem“ erschaffen, der, statt seinem Schöpfer und der Welt hilfreich und beschützend zur Seite zu stehen, für unkontrollierte Zerstörung und Chaos sorgt. Umso wichtiger ist es, die Motive und den Geist hinter dem jeweiligen Handeln kritisch zu prüfen und sich mit den Risiken des Tuns ebenso wie mit dem potentiellen Nutzen abwägend und nüchtern auseinanderzusetzen.
Ein Blick in die Geschichte lässt vermuten, dass die begonnenen Entwicklungen in den oben beispielhaft genannten Bereichen nicht aufzuhalten, sondern lediglich zu kanalisieren sein werden. Inwieweit diese Entwicklungen der Masse der Menschen wirklich zugute kommen können, hängt entscheidend vom Maß der Verantwortlichkeit und der Ethik derjenigen ab, die sie vorantreiben, ebenso wie von Richtlinien und Begrenzungen, die im Namen der Allgemeinheit eingeführt werden. Die Legende vom Prager Golem verweist jedoch auf ein unkontrollierbares Moment, das sich womöglich nie ausschließen lassen wird.
In der Legende vom Prager Golem gelingt es Rabbi Jehuda Löw schließlich, den von ihm selbst geschaffenen Golem auszuschalten, bevor dieser noch größeren Schaden anrichten kann. Dessen Überreste landen der Legende nach auf dem Dachboden der Altneu-Synagoge in Prag, den fortan niemand mehr betreten dürfe, da der Golem nie wieder zurückkehren soll.
Nur eine dicke Zeitung konnte nicht mitkommen; sie blieb auf dem Pflaster liegen und klappte haßerfüllt auf und zu, als sei ihr der Atem ausgegangen und als schnappe sie nach Luft.
Ein dunkler Verdacht stieg damals in mir auf: was, wenn am Ende wir Lebewesen auch so etwas Ähnliches wären wie solche Papierfetzen? – Ob nicht vielleicht ein unsichtbarer, unbegreiflicher »Wind« auch uns hin und her treibt und unsre Handlungen bestimmt, während wir in unserer Einfalt glauben unter eigenem, freiem Willen zu stehen?
Wie, wenn das Leben in uns nichts anderes wäre als ein rätselhafter Wirbelwind? Jener Wind, von dem die Bibel sagt: Weißt du, von wannen er kommt und wohin er geht? Träumen wir nicht auch zuweilen, wir griffen in tiefes Wasser und fingen silberne Fische, und nichts anderes ist geschehen, als daß ein kalter Luftzug unsere Hände traf?
– Gustav Meyrink, „Der Golem“
https://www.projekt-gutenberg.org/meyrink/golem/titlepage.html
© Michael Metzger, 2022.