Eine Kurzgeschichte.

Vor vielen Jahren hielt sich der Meister für längere Zeit in Afrika auf. In einer Stadt kaufte er regelmäßig in einem kleinen Lebensmittelladen ein, der von einer alten Frau geführt wurde. Die alte Frau sprach sehr gut Englisch, da sie früher einmal mit einem Ausländer verheiratet gewesen war und sich oft in internationaler Gesellschaft bewegt hatte. Wenn gerade keine Kunden im Laden waren, setzte sie sich gerne vor ihren Laden und beobachtete das Treiben auf der Straße.
Irgendwann entspann sich ein Gespräch zwischen den beiden, als der Meister der einzige Kunde im Laden war. Die alte Ladenbesitzerin lud ihn ein, sich mit ihr vor den Laden zu setzen. Da er keine dringenden Pläne hatte, nahm der Meister die Einladung gerne an. So tauschten sie bald Geschichten aus ihrer Vergangenheit aus und unterhielten sich über das Leben. Der Meister bemerkte schnell, dass die alte Frau sehr weise war und er viel von ihr lernen konnte. Deshalb kam er von da an noch öfters im Laden vorbei, um mit ihr plaudern zu können.
Bei einer dieser Gelegenheiten kamen die Frau und der Meister auf die prächtigen Tiere des Kontinents zu sprechen. „Ist die Giraffe nicht ein anmutiges Tier?“ fragte die alte Frau den Meister. Dieser konnte nur zustimmend nicken. Denn erst vor Kurzem hatte er ehrfürchtig eine Gruppe von Giraffen beim Fressen beobachtet und diesen faszinierenden Moment auf Fotos festgehalten, damit er ihn später immer wieder lebendig werden lassen konnte.
„Wir bewundern sie für ihre Eleganz und für ihre Schönheit,“ fuhr die alte Frau fort. „Menschen machen Fotos von ihr und zeigen diese in Büchern. Sie drehen Filme über die Giraffe und wir erfreuen uns an den Aufnahmen. Touristen kommen von weit her, um dieses wundervolle Tier einmal aus der Nähe betrachten zu können. Sie haben vielleicht das Gefühl, dass die Giraffe eines der schönsten und erhabensten Geschöpfe ist, die es in der Natur zu finden gibt. All die kleinen und unscheinbaren Tiere, die nicht so schön und imposant sind, verblassen leicht neben der Giraffe.“
Der Meister hörte aufmerksam zu, während die alte Frau erklärte: „Doch wir vergessen schnell, dass die Giraffe nur leben kann, wenn sie genügend Blätter, Knospen, Zweige oder Gras zu fressen findet. Ohne eine ausreichende Vegetation könnte sich die Giraffe nicht ernähren. All die gesichtslosen und unscheinbaren Pflanzen dienen ihr als Futter. Man könnte sagen, sie opfern sich und ihre Lebendigkeit, damit die anmutige Giraffe leben kann. Die Pflanzen und die Giraffe arbeiten zusammen, wenn Du so willst. Denn nur, wenn es genügend essbare Pflanzen gibt, können die wunderschönen Giraffen leben. Sie gehören zu einem Ganzen, einem Kreislauf, dessen Teile aufeinander abgestimmt sind.“

Der Meister ließ die Worte der alten Frau auf sich wirken. Diese erläuterte weiter: „Denke nun an den Löwen, welch ein majestätisches und ehrfurchtgebietendes Tier! Nicht umsonst nennen wir ihn den König der Tiere. Der Mensch fürchtet und bewundert ihn gleichermaßen. Der Löwe strahlt so viel Stärke und Souveränität aus. Wir denken vielleicht, dass er über den anderen Tieren stehe, dass er wichtiger und bedeutender sei als die anderen.
Nun, gelegentlich frisst der Löwe auch Giraffen. Obwohl diese so schön und beeindruckend sind, werden sie vom Löwen gerissen und verspeist. Er steht über ihnen in der Nahrungskette. Doch ist der Löwe deshalb ein wertvolleres Geschöpf als die Giraffe? Was geschähe mit dem Löwen, wenn es keine Giraffen oder andere Tiere mehr gäbe, die er fressen könnte?
Der Löwe kann nur so lange als König der Tiere existieren, wie es genügend andere Tiere gibt, die er fressen kann. Nur so lange können wir dieses majestätische Wesen weiter bewundern. Gäbe es keine Pflanzen, dann gäbe es keine Giraffen oder andere Beutetiere und darum auch keine Löwen… Sie alle wirken zusammen, um diese reiche und vielfältige Natur hervorzubringen, die wir voller Verzückung und Ehrfurcht betrachten.
Der König der Tiere benötigt also die kleinen Gräser, über die andere Tiere hinwegtrampeln, um als König der Tiere leben zu können. Die elegante Giraffe benötigt sie ebenfalls für ihr Überleben. Sie bezaubert mit ihrer Erscheinung, bis sie von hungrigen Löwen gefressen wird. Wir stehen vor einer erhabenen Gesamtkomposition, vor einem Mosaik, in dem jeder Teil seinen Platz findet und seine Rolle einnimmt. Jeder Teil liefert auf diese Weise seinen Beitrag zum Erhalt des vielgestaltigen Ganzen, des großen Kreislaufs.“
Sie machte eine kurze Pause. Der Meister vermeinte, auf ihrem Gesicht ein seliges Leuchten wahrzunehmen, einen Ausdruck tiefer innerer Zufriedenheit und Verbundenheit mit dem Leben. Berührt von ihren Worten, schwieg er weiter, in der Hoffnung, die alte Frau würde ihn noch an weiteren ihrer Gedanken teilhaben lassen. Tatsächlich fuhr sie nach einigen Minuten des Schweigens fort:
„Siehst du, ähnlich verhält es sich mit den Menschen. Wir hängen alle auf die eine oder andere Weise voneinander ab, auch wenn das den wenigsten Menschen wirklich bewusst ist. Wir denken vielleicht, dass der Reiche oder Mächtige mehr wert sei als die anderen Menschen. Denn er hat die Möglichkeit, über das Leben vieler zu bestimmen, die weniger Macht und Reichtum als er selbst haben.
Doch er ist nicht reich oder mächtig aus sich selbst heraus. Ohne alle anderen Teile des Ganzen, die ihre Rolle einnehmen, wäre er nicht dort, wo er jetzt ist. Vielleicht denken wir, manche Menschen seien unbedeutend und wir beachten sie daher nicht oder trampeln sogar auf ihnen herum wie die Gnus auf den dünnen Gräsern der Savanne. Doch auch diese Menschen sind ein Teil des Ganzen. Weil sie sind, wie sie sind, können die Reichen und Mächtigen, die Erfolgreichen und Angesehenen, so sein, wie sie sind.“
Die alte Ladenbesitzerin machte abermals eine Pause. Dann beendete sie ihren Monolog mit den folgenden Worten: „Wir verstehen die Zusammenhänge vielleicht nicht genau, weil wir keinen Überblick haben. Doch wie der Löwe, die Giraffe und die Pflanzen sind auch wir Menschen Teil eines zusammenhängenden Ganzen, das in seiner Gesamtheit nur durch das Wirken der Einzelnen fortbestehen kann, so unbedeutend uns diese womöglich auch erscheinen. Wenn bei einzelnen Teilen dieses Ganzen eine Veränderung stattfindet, dann betrifft das immer auch das Ganze, auch wenn manche Veränderung nicht sofort im Großen sichtbar wird.
Daher sollten wir erkennen, dass in unserer Gesellschaft jeder einzelne Mensch seinen Wert und seine Aufgabe hat, so wie jedes einzelne Tier in der Savanne seinen Wert und seine Aufgabe hat. Wir sollten Respekt haben vor Allem das ist, statt nur diejenigen zu bewundern, die am schönsten oder stärksten sind und dadurch hervorstechen oder die anderen aufgrund ihrer eigenen Stärke ‚fressen‘ können.
Auch sollten wir demütig sein, da wir das Ganze nicht überblicken und nicht immer verstehen können, warum ein jeder so ist wie er ist und warum er genau diese Rolle zu spielen hat. Ich nenne das ‚Die Lehre der Savanne‘. Ich hoffe, Du kannst verstehen, was ich meine.“
Bilder und Text © Michael Metzger, 2022. Alle Rechte vorbehalten.
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